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Archiv-Artikel

in fussballland Das Ende des Stockholm-Syndroms

CHRISTOPH BIERMANN über Mike, den Bettler, und die wahren Gründe des Bochumer Sieges gegen die Bayern

Große Siege auf dem Rasen werden stets von einer Fülle kleiner Geschichten auf den Rängen umschwirrt. Denn irgendwie muss sich der Fan doch erklären, wie unmögliche Erfolge möglich werden konnten und auf welche Weise die Anhänger daran beteiligt waren. Der erste Heimsieg des VfL Bochum über den FC Bayern München seit fast zwei Jahrzehnten konnte folglich nicht allein durch eine vom Zeugwart erarbeitete Taktik gelungen, dem stahlgeschienten Mittelfinger des Torhüters zu danken oder schlicht durch eine gute Leistung zu erklären sein.

Was aber hatte der historische Sieg mit Claudias neuem blau-weißen Schal und dem Bettler unter der Brücke zu tun? Zumal Claudia vor dem Spiel verdammt aufgeregt ins Ruhrstadion kam, weil Mike seine Unterstützung aufgekündigt hatte. Mike geht seiner Tätigkeit als Bettler unter einer Bochumer Brücke nach, die auf dem Weg von Claudias Wohnung zum Stadion liegt. Vor einigen Monaten warf Claudia ihm einen Euro in seinen Hut, und er wünschte ihr daraufhin „viel Glück und drei Punkte“. So kam es, und bei den folgenden Heimspielen wurde ein Ritual daraus: Claudia spendete, Mike gab ihr die besten Wünsche mit auf den Weg, der VfL siegte.

Das Motiv, durch milde Gaben an die Armen das persönliche Schicksal freundlich zu beeinflussen, kennt fast jede Weltreligion. Warum also sollte es beim Fußball anders sein? Gegen die Bayern aus München sollte es selbstverständlich so weitergehen, doch zunächst fand Claudia den Talisman an diesem Tag nicht an seinem Platz. Sie war schon beunruhigt, und als Mike doch noch auftauchte und ihr Euro endlich in seinem Hut landete, versagte er ihr die obligatorischen guten Wünsche. „Heute geht das nicht, ich bin seit 27 Jahren Bayern-Fan.“ Eine Katastrophe, zumal Claudia auch noch den von ihrer Tante aus Oberbayern gestrickten Fan-Schal trug. Er war ein Geschenk zum Geburtstag, der jedoch erst am Tag nach der Partie anstand. Die Tante hatte den Schal per Post geschickt, das Päckchen nicht mit einer Warnung versehen, Claudia es ausgepackt und den Schal unvorsichtigerweise vor der Zeit umgelegt.

Spielten Claudia, ihr Schal und das Ritual mit dem Bettler Mike also beim 1:0-Sieg gar keine Rolle, sondern war die wesentliche Voraussetzung für den Sieg das Erkalten der Fanfreundschaft zwischen den Anhängern des VfL Bochum und denen des FC Bayern? Mochte diese auch tief in den Siebzigerjahren wurzeln und dereinst ehrlichen Herzens betrieben worden sein, hatten sie irgendwann die Züge des Stockholm-Syndroms gewonnen. Diese Identifikation von Opfern mit ihren Tätern wurde zum ersten Mal 1973 bei einem Banküberfall in der schwedischen Hauptstadt beschrieben, als die Geiseln mit den Geiselnehmern paktierten und sich mit ihnen gegen eine Befreiungsaktion wehrten.

Ähnlich war die Stimmung im Ruhrstadion, wenn Bochumer und Münchner bei den Spielen ihrer Teams zwar gemeinsam jubelten, aber halt immer nur der FC Bayern gewann. Gerne auch durch zweifelhafte Elfmeter. Bochums höchste Heimniederlage in der Bundesliga setzte es gegen die Bayern, und die wenigsten Heimsiege. Einmal führte der VfL zur Pause mit 4:0 – und unterlag 5:6. Und das sollte man auch noch feiern.

Inzwischen jedoch findet man den FC Bayern auch im vom Syndrom befreiten Bochum so blöd wie überall sonst, was Claudia übrigens schon lange propagiert hatte. Dem Bettler Mike hatte sie außerdem in Aussicht gestellt, im Falle eines Sieges vor dem nächsten Heimspiel drei Euro zu Christoph Biermann, 43, liebt Fußball und schreibt darüber.

spenden. Zufällig traf sie ihn abends auf dem Heimweg wieder. „Kein Scheiß, ich habe gerade an dich gedacht“, sagte er. Und als sie ihm noch einmal die erhöhte Gabe ankündigte, wehrte er ab. Das wäre schon in Ordnung. Denn Mike hat seine Bettlerehre und wollte sich seinen Schmerz über die Niederlage seiner Bayern nicht abkaufen lassen.

Wobei auch diese Geschichten vom Gabenwesen und dem Ende des Stockholm-Syndroms nur ein Teil der Wahrheit des Sieges über die Bayern ist. Denn in Wirklichkeit wurde der Erfolg durch den richtigen Umgang mit einem Kaffeebecher in einer Wohnung fern von Bochum gesteuert. Wie, das kann aber wirklich nicht verraten werden.